Zwischen Flucht und Zuflucht
Interview mit den Editorin Carina Mergens - Gewinnerin des Bild-Kunst Schnitt Preis Dokumentarfilm 2015 für Am Kölnberg (Regie: Laurentia Genske und Robin Humboldt)
Kyra Scheurer: Das Sujet von Am Kölnberg ist nicht
einfach, Deiner Montage gelingt aber eine sensible Gratwanderung im Umgang mit
den Protagonisten: Sie werden sehr ehrlich, aber auch sehr respektvoll in ihrem
Leben und ihren Krisen porträtiert ohne jemals in Voyeurismus oder
Elendsfolklore abzugleiten. Wie hast Du Deine Grenzen gezogen, welches Material
Du reinnimmst und wo Du vielleicht auch einmal die Protagonisten vor sich
selbst schützt?
Carina Mergens: Das war
ein Prozess. Ich musste erst mal mit meinen eigenen Vorurteilen gegenüber den
Menschen und ihrem Umfeld umgehen lernen. Nachdem ich damals erste kurze
Ausschnitte aus dem Material angeschaut hatte, war ich erschrocken über die
Offenheit und Selbstverständlichkeit mit der sich die Protagonisten vor der
Kamera verhielten. Biene, die Heroin und Crack raucht, Karl-Heinz, der in
Unterhose durch sein Wohnzimmer läuft, weil er sich nun mal so wohler fühlt,
die Trostlosigkeit der Wohnungen. Aber natürlich gehört das alles zu den
Menschen und zu ihrer Welt dazu. Es ging dann darum, zu selektieren: Was
brauchen wir wirklich, um die Geschichten der Protagonisten zu erzählen? Müssen
wir das jetzt zeigen, um etwas über den Menschen zu verstehen? Wenn nicht, raus
damit.
Einige
der oftmals in Suchtproblematiken gefangenen Protagonisten wollen den Kölnberg
dringend verlassen, auf der anderen Seite gibt es die Baronin, die ihren Einzug
dort als Befreiung erlebt, da sie aus einer Sozialwohnung nicht rausgeworfen
werden kann. Inwieweit hast Du die Dualität von Kölnberg zwischen Flucht und
Zuflucht im Schnitt bewusst verstärkt?
Letztendlich ist der Kölnberg all unseren
Protagonisten eine Heimat, zu der sie sich im Film sowohl in positiver als auch
in negativer Weise äußern. So ist diese Dualität einfach bei dem Versuch
entstanden, den Kölnberg so wahrhaftig wie möglich darzustellen. Das gilt auch
für die Verwendung der Szenen, die sich draußen um den Kölnberg herum abspielen.
Man sieht Jugendliche, die Fußball spielen, daneben ist der Drogenstrich, da
spielen Kinder auf dem Spielplatz, man sieht einsame, Bier trinkende Männer
oder den feiernden Kioskbesitzer. Es ging immer darum, einen Ausgleich zu
finden zwischen dem Harten und dem Schönen.
Du
näherst Dich dem „Universum Kölnberg“ aus verschiedenen Perspektiven und mit
viel Zeit. Wie formt man im Schnitt diesen weiteren, nicht zuletzt titelgebenden
Protagonisten, den Ort "Am Kölnberg"?
Es war klar, dass wir sehr früh im Film den
Ort verstehen müssen, in dem sich unsere Protagonisten bewegen. In Köln hat der
Ort den Ruf eines sozialen Brennpunktes, in dem Drogen, Kriminalität und
Prostitution an der Tagesordnung sind. Nun hatten wir ja die Möglichkeit, uns
dem Kölnberg von Innen, durch die Augen der dort lebenden Menschen, zu nähern. Deshalb
begleiten wir unsere Protagonisten zu Anfang in ihrem ganz normalen Alltag und
nebenher erfahren wir den Ort. Wir sehen Biene auf ihrer Tour durch die Gänge,
begleiten sie in eine Wohnung zum rauchen, dann nimmt sie uns wieder mit nach
draußen wo wir sehen was sie sieht: den Spielplatz, den Kiosk, den Drogenstrich
usw. Dann wechseln wir die Perspektive und sehen den „herrlichen weiten Blick“,
den die Baronin von ihrer Wohnung aus hat. Wir begleiten Martha beim täglichen Gassigehen
und Karl Heinz bei seinem Gang zur Tafel, der Essensausgabe, die sich in einem
der Gebäude befindet. So haben wir versucht, ein buntes Bild vom Kölnberg zu
zeichnen, das weder schönt noch unnötig dramatisiert.
Das
Material ist über eine ganze Weile entstanden und hätte unzählige Möglichkeiten
in der Montage geboten – wie war Deine Zusammenarbeit mit den beiden
Filmemachern und wie Dein Blick auf das Material?
Laurentia und Robin, die beiden Filmemacher,
haben mir alle erdenkliche Freiheit mit dem Material gegeben und mich während
der Entstehung der ersten Schnittfassung einfach erst mal machen lassen. Sehr wichtig
war mir, aus dem recht schweren Material einen Film entstehen zu lassen, den
man dem Publikum zumuten kann. Ich habe also immer darauf geachtet, dass die
leichte, manchmal auch sehr lustige Seite nicht verloren geht und somit die
Schwere immer wieder aufgefangen wird. Genau dadurch ist, wie ich finde, ein
authentisches Bild von unseren Protagonisten und ihrem Leben am Kölnberg
entstanden. Denn auch sie sind sich ihrer Lage durchaus bewusst, wissen aber
auch, ihre Freuden zu leben.
Wie
arbeitest Du? Wie wichtig ist ein bewusstes Konzept, eine evtl. mittels
Karteikarten o.ä. visualisierte dramaturgische Struktur, wie viel kommt einfach
aus dem Bauch heraus, entspringt einer Intuition in der Einfühlung ins
Material?
Im Falle des Kölnbergs hatte ich kein bewusstes
Konzept, aber grundsätzlich sehe ich immer zu, dass ich das Material sehr gut
kenne, bevor ich anfange, es zu schneiden. Ich denke, nur so können im Kopf die
Ideen entstehen. Im Falle des Kölnbergs hatten wir vier Protagonisten. Also
habe ich erst mal von dem Material jedes einzelnen Protagonisten eine Auswahl
getroffen. Begonnen habe ich dann mit dem Einzug der Baronin am Kölnberg, weil
klar war, dass die Szene sehr weit an den Anfang muss. Von dort aus habe ich
mich dann weiterbewegt. Ich habe mich immer gefragt: Wo sind die Gemeinsamkeiten?
Was verbindet diese Menschen? Ich denke, Schneiden ist oft wie Schreiben. Man
hat seine Figuren und man hat ein Bild von ihnen und ihrer Vergangenheit und
dann sucht man im Material nach den Momenten, die das auf den Punkt bringen,
was man über die Person erzählen möchte. Oft entdeckt man dabei wiederum einen
neuen Aspekt, der einen dann weiterführt. An manchen Tagen fühlt sich die
Arbeit dann auch mal an, als hätte man ein Puzzle mit ganz viel Himmel vor
sich. Irgendwann findet man das Teilchen, das passt.
Interview: Kyra Scheurer